Ein Haus nach kindlichem Maß
Wenn ein Baby auf die Welt kommt - vor allem dann, wenn es sich um das erste Kind handelt -, ist die Erwachsenenwelt sofort mit zwei grundlegenden Aktivitäten beschäftigt, die sie vereinnahmen und die Art der Fürsorge lenken: das Neugeborene schützen und dessen Entwicklung fördern.
Tatsächlich haben diese beiden Beschäftigungen/Besorgnisse bereits die Monate des Wartens auf das Baby geprägt. Da wird versucht, sich zu orientieren, bei der Wahl der richtigen Windeln, der hautverträglichsten Bekleidung, des sichersten Anti-Reflux-Kissens und des geeignetsten Kinderwagens oder Babyschale zur Unterstützung der kleinen Wirbelsäule. Alles konzentriert sich auf das Menschenjunge: der kleine Sonnengott, der blendet und alles andere vergessen lässt. All dies zur Freude der Werbeindustrie und der spezialisierten Firmen für jegliche Art von Produkten.
Die Menschenjungen zeigen Tag für Tag das Wunder ihrer reifenden Funktionen, wenn auch sehr langsam im Wachstum und in der Eroberung ihrer Selbständigkeit gemessen an den Jungen aller anderen Säugetiere. Dieses Wunder findet dank dieses unglaublichen und komplexen Systems statt, das der menschliche Körper ist, und zum Glück unabhängig von den ‚weisen und plagenden‘ Ratschlägen aus dem Handel. Tatsächlich funktioniert der Körper, mit dem uns die Natur ausgestattet hat, wie eine sehr potente und äußerst sensible Satellitenschüssel. Und zwar fängt er alle Reize ein, die die äußerliche Welt für ihn bereitstellt und an ihn richtet, und bearbeitet sie.
Wie könnte der Sonnenkönig sonst von jeder Pflege profitieren, die die Erwachsenen für ihn bereitstellen, egal wie ungeschickt, mehr oder weniger passend, mehr oder weniger öffentlich kund getan diese auch sein mag.
Seine „Antenne/Körper“ funktioniert dank seiner eng miteinander verbundenen Wahrnehmungskanäle, die die Aufgabe haben, sein neuronales Netzwerk zu schulen, das dafür sorgen wird, dass er sich bewegt, dass er schreit, gähnt, erbricht, seine Blase und seinen Magen leert, aber auch dass er Grimassen schneidet und lächelt, was seine Eltern und Verwandten in Verzückung geraten lässt.
Bereits sofort nach der Geburt hat ein Kind einen sehr ausgeprägten Geruchssinn: es erkennt nicht nur den Geruch seiner Mutter, sondern auch von allem Anderen, dass es umgibt. Folglich wird sein Haus in den ersten Lebensmonaten und –jahren zur Verlängerung seiner selbst und seiner Welt: ein Ort, den es sofort wiedererkennen lernt und der zum Ausgangspunkt für Vergleiche mit anderen „Häusern“ wird.
Daher sollten Eltern sich nicht darauf beschränken, darüber nachzudenken, was es im Haus Gefährliches gibt für das Kind, das heranwachsend eine faszinierende und unbekannte neue Welt betritt. Sie sollten nicht nur darüber nachdenken, wegzunehmen, abzuschließen, zu verstecken … nur um im Nachhinein herauszufinden, dass der kleine Wirbelwind schlauer war als sie selbst. Viel mehr sollten sie von ihrem Kind lernen und die Welt mit seinen Augen sehen. Aber um das zu können, müssen sie sich daran erinnern (da es auch ihnen so ergangen ist), dass das Kind dank seines Körpers in diese Welt gekommen ist; dass der Körper für ein Kind das ist, was für einen Geometer Zirkel und Zollstock sind. Für ein Menschenjunges ist die Welt all das, was es mit seinen Sinnen und seinen Muskeln „messen“ und ausloten kann.
Jedes Zimmer des Hauses, egal ob groß oder klein, kann für das Kind ein Kontinent sein, den es zu entdecken gilt, eine Trainingshalle für seine kognitive Entwicklung, ein Ort, an dem es die Konsequenzen seinen Handelns erfahren und die Freude über seine Entdeckungen teilen kann.
Wie? Fangen wir bei der Küche an. Ein Raum, in dem die Mütter und, hoffentlich, die Väter viel Zeit verbringen müssen. Bereits nach zwei-drei Monaten ist ein Kind imstande, die Bewegungen einer mit ihren Tätigkeiten beschäftigten Person zu verfolgen, wenn es angemessen gestützt auf der Arbeitsfläche positioniert ist. Das Vorurteil des Erwachsenen, dass es sinnlos sei, mit einem Kind zu sprechen, das selbst noch nicht spricht, prallt auf jenen primären Interaktionsprozess, der die Basis für die Ausformung des kindlichen Verstandes ist. Eine Mutter, die, während sie ihre Tätigkeiten erledigt, mit ihrem Baby spricht und sich an das Kind wendet wie in einem tatsächlichen Gespräch, „konstruiert“ den Geist des Kindes. Das Kind benutzt seinen Sehsinn, um die Quelle jener Stimmen zu suchen und zu fokussieren, die zu seinem schützenden „Gehege“ werden.
Was kann das Kind alles tun in der Küche, sobald es gelernt hat, alleine zu sitzen? In der Küche sollte es immer ein kleines Fach geben auf Augenhöhe des Kindes mit einigen Utensilien aus buntem Plastik oder Silikon, einigen Holzlöffeln und dazu ein Behälter mit den magischen Maccheroni! Warum gerade Maccheroni? Sie sind groß genug, um nicht verschluckt zu werden und trotzdem ausreichend klein, um den Pinzettengriff und den Zangengriff zwischen Zeigefinger und Daumen anzuregen. Außerdem erlauben sie es dem Kind, jene unwiderstehliche Attraktion auszuprobieren, einen Finger in ein Loch zu stecken.
Personen mit Hausverstand denken nicht daran, dass diese „einfachen“ Tätigkeiten“ des Kindes auch Training für die Entwicklung der Sprache sind, indem sie die Seh- und Bewegungskoordinierung und die Feinmotorik anregen. Umso mehr, als sie neben einem Erwachsenen ausgeführt werden, der, während er sich um seine Angelegenheiten kümmert (und auf den kleinen Struwwelpeter aufpasst) sich ihm immer wieder phasenweise zuwendet, in einem echten Rhythmus „Aktivität/Pause“. „Wie schön sind doch die Maccheroni!“. Pause: auch wenn das Kind nicht antwortet, weiß es, dass wir uns gerade an ihn wenden. „Was für ein schönes Geräusch macht der Löffel auf der Schüssel!“ Pause: das Kind spürt so, dass es für uns existiert, auch wenn wir es in dem Moment nicht berühren.
Ein Haus nach kindlichem Maß müsste ihm immer „Ecken/Höhlen“ ermöglichen, in denen es Räume proportional zu seiner Größe erproben kann. Erinnert Ihr euch an den magischen Pilz von Alice im Wunderland? Für ein Kind, das gerade begonnen hat, sich krabbelnd fortzubewegen oder zu gehen, ist alles zu groß und überdimensioniert. Daher bedeutet unter den Tisch oder in eine Ecke kriechen, endlich den Raum zu beherrschen. Das ist der Grund, warum Kinder, manchmal auf gefährliche Weise, kleine und geschlossene Räume suchen. Das heißt, die Erwachsenen sollten es ihnen ermöglichen, solche zur Verfügung zu haben, nachdem sie sich versichern konnten, die gefährlichen Orte ohne Ausweg blockiert zu haben.
Das Bad ist eine weitere Attraktion voller Fallen und Faszination. Das Wasser ist ein natürliches Element, Quelle zahlreicher Empfindungen. Wir haben gesagt, die Wahrnehmung ist die Tür, mittels derer der Körper des Kindes angeregt wird, in die Welt zu treten: ermuntert oder nicht.
Wie lernt man einem Kind schnell, dass das Wasser der Kloschale nicht ratsam für ihn ist? Anstatt von vornherein einem Kind etwas zu verbieten, ist es immer hilfreicher, eine praktikable Alternative für ihn und den Erwachsenen anzubieten. Besser eine Schüssel in der Duschtasse oder ein Bidet, in dem es seinen Stofffetzen oder seine Puppe „waschen“ kann, als den passenden Moment abzuwarten, um der Wachsamkeit zu entgehen. Auch diese Aktivität kann - und soll in diesem Fall sogar -gemacht werden, während der Erwachsene seine Angelegenheiten erledigt; und immer „plaudernd“: das ist die Voraussetzung, um die so sehr gewünschte Intelligenz des Kindes anzuregen.
Zu guter Letzt das Kämmerchen oder die ihm gewidmete Ecke in einem gemeinsamen Zimmer: ein Wohnzimmer oder das Zimmer der Geschwister oder der Eltern. Heutzutage können sich nicht alle große Häuser leisten, daher ist die Organisation der Räume umso wichtiger. Es ist wichtig, dass ein Kind seine eigene Ecke hat, auch wenn sie klein ist, mit einem Korb, einem Kasten, einer Schachtel für seine Spiele. Es müssen nicht viele Spiele sein, aber es müssen seine sein. Von klein an (schon mit 18 Monaten ist ein Kind fähig, einfache Assoziierungs- und Klassifizierungsaufgaben zu bewältigen: einen Behälter mit Gegenständen zu ordnen ist Teil dieser Aktivitäten) kann man einem Kind in spielerischer Form helfen, sein „Werkzeug“ aufzuräumen. Die Gegenstände „zu einem Nickerchen hinzulegen“ ermöglicht wieder jene kleine aber extrem wichtige rhythmische Interaktion: es ist nicht der Erwachsene, der aufräumt oder anordnet, aufzuräumen, sondern auf einen Gegenstand zeigend bittet er das Kind, diesen in sein „Haus“ zu legen und wartet ab, dass das Kind das selbst macht. Es ist wichtig zu lernen, sich zu kümmern und zu wissen, dass dieses Sich-um-andere-kümmern es uns ermöglicht, andere fit wiederzufinden, erneut bereit, mit uns den nächsten Tag zu erleben.
Immer in der Versessenheit, zu fördern und den Kindern das Beste anzubieten, denken wir nicht an einfache Gegenstände mit geringem wirtschaftlichen Wert, die aber wertvoll für die Kleinen sind: die Alltagsutensilien, die großen, von den Erwachsenen ausgemusterten Kleidungsstücke, mit denen man sich verkleiden kann, Handtücher und kleine Decken zum Falten und Wiederfalten. Ob die Mütter und Väter wohl wissen, dass diese Tätigkeit erneut die Feinmotorik, die Augen-Hand-Koordination und die Konzentration fördert: alles unentbehrliche Voraussetzungen für das Lesen und Schreiben.
Und apropos Schreiben: warum werden die Kinder wohl den Fimmel haben, die Wände beschmieren zu wollen? Wenn ein Kind die aufrechte Position erlernt, beginnt jener lange psychomotorische Weg, der es ihm erlaubt, den Raum nach Richtungen zu organisieren (oben/unten, rechts/links, vertikal/horizontal). Ein alles andere als einfacher Prozess, der von den Erwachsenen sehr unterschätzt wird. Auf die Wände schreiben ist die spontane psychomotorische Therapie des Menschenjungen. Deshalb habe ich gesagt, dass der Körper für das Kind das ist, was für den Geometer Zirkel und Zollstock sind. Sein Körper ist das Maß der Welt. Es ist daher wichtig, dass ein Kind einen eigenen Platz hat, ein Stück Laminat oder weißes Verpackungspapier, angebracht an einer ihm zugewiesenen Wand. So wird das Kind seine „Senkrechtigkeit“ zum Befüllen haben und die Großen ihre geschützten Wände. Aber Achtung, dies wird nur geschehen, wenn das Menschenjunge jenen Rhythmus von Aktivität/Pause gelernt hat, der es lehrt, zuzuhören und Antworten abzuwarten. Ein Rhythmus, der die Voraussetzung für jede Möglichkeit ist, Abmachungen zu treffen und gemeinsame Regeln festzulegen.
Wissen die Großen, dass ein Haus nach kindlichem Maß eine wahrhaftige Trainingshalle sein kann, die die Grundlagen eines gemeinsamen Lebens bereitstellt und die Gelegenheiten zur Anregung aller kindlichen Funktionen bietet? Das heißt ein Haus nach kindlichem Maß ist nicht ein unangefochtenes Königreich, in dem das Kind tun und lassen kann, was es will, sondern ein Ort, wo es das üben kann, womit es Mutter Natur ausgestattet hat; lernend und lehrend, es mit seinen Mitbewohnern zu teilen.
Diesen Artikel finden Sie auch im gedruckten Baufuchs 2017
Fachautor
Dr.in Miram Gandolfi
Psychologin / Psychotherapeutin
Dozentin am “European Institute of Systemic-relational Therapies (E.I.S.T.) di Milano”
www.officinadelpensiero.eu
Übersetz aus dem Italienischen
Dr. Esther Maffei